Istanbul-Konvention

Gewalt ist keine Privatsache

Severin Schuster und Sabine Burkhardt stehen nebeneinander vor einer Wand und schauen nach vorne in die Kamera
Machen Mut: Severin Schuster und Sabine Burkhardt setzen sich von Berufs wegen für die Sicherheit von Frauen, Mädchen und anderen Opfern von Gewalt ein. (Foto: Seeger / Stadt Freiburg)

Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats, das Gewalt gegen Frauen verhindern soll. Die Umsetzung liegt aber großteils bei den Kommunen. Auf Initiative des Gemeinderats wird jetzt eigens hierfür eine Koordinierungsstelle im Referat für Chancengerechtigkeit geschaffen. Übergangsweise hat diese Aufgabe Sabine Burkhardt vom Amt für Soziales übernommen. Gemeinsam mit Severin Schuster, der Anti-Gewalt-Trainings anbietet, berichtet sie im Gespräch mit dem Amtsblatt darüber, was Freiburg gegen Gewalt an Frauen tut – und welche Lücken es noch zu füllen gilt.

Amtsblatt: Frau Burkhardt, Sie haben letzten Sommer eine kommunale Umfrage zum Gewaltschutz durchgeführt. Was war der Hintergrund, und zu welchen neuen Erkenntnissen sind Sie gelangt?

Burkhardt: Um den Gewaltschutz in Freiburg weiter voranzubringen, haben wir einen Beteiligungsprozess gestartet. Das heißt wir haben uns mit allen möglichen Fachmenschen und Organisationen zusammengetan, um erst eine Bestandsaufnahme zu machen, welche Angebote zur Gewaltprävention es bereits gibt. Dann konnten wir ermitteln, welche Lücken und Bedarfe es noch gibt. Parallel dazu war es uns wichtig, Bürgerinnen und Bürger mit einer großangelegten Umfrage miteinzubeziehen. Es hat mich überrascht, dass so viele Menschen Gewalt in der Öffentlichkeit wahrnehmen. Zum Beispiel hatte rund ein Drittel der Befragten innerhalb eines Jahres Gewalt in Freiburg miterlebt. Es gab außerdem viel Frustration beim Thema sexuelle Belästigung. Viele junge Frauen glauben aufgrund ihrer Erfahrungen, Belästigung einfach hinnehmen zu müssen. Gefreut hat mich, dass 27 Prozent derer, die Gewaltvorfälle beobachtet haben, Hilfe für Betroffene organisiert haben. Wir konnten auch Wissenslücken identifizieren, zum Beispiel im Bereich Täterarbeit.

Amtsblatt: Frau Burkhardt, wie lässt sich die Istanbul-Konvention auf kommunaler Ebene umsetzen?

Burkhardt: Wir setzen den Schwerpunkt auf Gewaltprävention. Das ist nur eine der Säulen der Konvention – da müssen wir einfach priorisieren. Unsere Handlungsfelder sind Schutzkonzept, Bildungs- und Bewusstseinsarbeit sowie Täterarbeit.Die oberste Botschaft muss lauten: Gewalt ist keine Privatsache. Jetzt, wo wir dem Gemeinderat den Beteiligungsbericht vorgelegt haben, arbeiten wir an einem konkreten Aktionsplan. Positiv ist, dass wir schon bald mit dem Modellprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ starten können. Wahr ist aber auch, dass andere europäische Länder besser aufgestellt sind. Da die Konvention auch in Deutschland schon seit Jahren geltendes Gesetz ist, ist es umso wichtiger, dass wir jetzt eine unbefristete Koordinierungsstelle bei der Stadt einrichten. Das ermöglicht eine gute Vernetzung und mehr Öffentlichkeitsarbeit.

Istanbul-Konvention

Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats. Sie wurde 2011 in Istanbul verabschiedet. Nach Artikel 1a dient sie dazu, „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“. Bis heute haben 46 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet, 34 der Mitgliedstaaten haben sie ratifiziert – auch Deutschland. Mit dem Inkrafttreten am 1. Februar 2018 ist die Konvention geltendes Recht in Deutschland, vor dessen Hintergrund die deutschen Gesetze ausgelegt werden müssen.

Amtsblatt: Herr Schuster, Sie arbeiten im Bezirksverein für soziale Rechtspflege mit Menschen, die anderen Gewalt angetan haben. 90 Prozent der Täter sind männlich. Woran liegt das?

Schuster: Hinter einer Gewalttat steht häufig eine Drucksituation, eine situative Überforderung. Aus dieser Hilflosigkeit heraus möchte sich der Täter wieder mächtig und handlungsfähig fühlen. Hinter diesen Taten steht ein altes, patriarchales Rollenverständnis: die Idee, dass ein Mann die Kontrolle haben muss, stark sein muss. Leider ist das auch heute noch großflächig anerkannt. Man muss nur mal Eltern auf dem Spielplatz beobachten. Ein Junge fällt hin und die Eltern sagen: „Stell dich nicht so an.“ Die Schwester fällt hin, und plötzlich muss alles Zuckerwatte sein. Mit „Sei-starks“ und „Stell-dich-nicht- so-ans“ füttern wir die Kinder mit diesen Rollenbildern. Die Täter reproduzieren diese Rollen, haben gelernt, dass sie keine Schwäche zeigen dürfen. Deshalb fällt es den Teilnehmern auch wahnsinnig schwer, ihre Gefühle zu verbalisieren. Darin machen sie bei uns Riesenfortschritte. Wenn jemand nicht über seine Emotionen sprechen kann, ist das wie eine Magmakammer. Ein Vulkan, der explodiert, wenn kein Ausweg in Sicht ist. Trotzdem ist es nicht so, dass nur Männer Gewalt ausüben. Wir haben auch schon mit Frauen gearbeitet. Genauso wenig stimmt es, dass häusliche Gewalt in bestimmten Milieus verankert ist. Wir haben vom Leistungsempfänger bis zum Firmenvorstand alles dabei. Ich sage frei nach Bushido immer: „Vom Bordstein bis zur Skyline.“

Amtsblatt: Frau Burkhardt, wir haben eben gehört, dass geschlechtsspezifische Erwartungen oft schon in der Kindheit etabliert werden. Mit welchen präventiven Maßnahmen könnten wir häusliche Gewalt verhindern?

Burkhardt: Es wäre tatsächlich wichtig, dass wir Rollenvorstellungen aufbrechen. Dafür braucht es gute Arbeit mit Jungs und jungen Männern, die deren Bedürfnisse ernst nimmt und auf das Thema Gefühle eingeht. Wir müssen ganz früh anfangen, von Geburt an eine Gleichstellung der Geschlechter etablieren. Zum Beispiel durch Bewusstseinsarbeit für das Thema Gewalt in Kitas und Schulen. Und wir brauchen Männer, die sich für Gleichstellung stark machen, gute Vorbilder sind. Im Beteiligungsprozess wurde uns deutlich: Es geht nicht nur um Frauen, das Thema geht alle an! Wir dürfen Gewalt nicht mehr bagatellisieren. Wir brauchen auch gute Täterarbeit – zum Schutz von Betroffenen, aber auch um Gewaltspiralen aufbrechen zu können.

Amtsblatt: Herr Schuster, wie erklären oder gar rechtfertigen Ihnen gegenüber gewaltausübende Menschen das, was sie tun oder getan haben?

Schuster: Der Klassiker ist: „Ich hab’s nicht anders gelernt.  Mein Vater hat das auch so gemacht.“ Die Gewalt wird also mit der eigenen Ohnmacht legitimiert. Häufig heißt es aber auch, das Opfer hätte sie dazu getrieben. Ein Täter sagte zu mir: „Wenn Ihnen in einer Beziehung von sieben Jahren jeden Tag gesagt wird, dass sie kein Mann seien, dass sie nichts können – verstehen Sie nicht, wie sich das anfühlt, Herr Schuster?“ Natürlich verstehe ich das Gefühl. Aber das ist keine Rechtfertigung, Gewalt anzuwenden! Trotzdem ist die Historie und Perspektive der Teilnehmenden wichtig für mich, um zu verstehen. 95 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, haben selbst Opfererfahrungen gemacht, häufig in der Kindheit. Diese eigenen Opfergeschichten rekonstruieren wir, und dann wundert es mich auch nicht mehr, dass Gewalt für ein probates Mittel der Konfliktlösung gehalten wird. Die Muster bleiben.

Amtsblatt: Herr Schuster, wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?  Wie schaffen Sie es, zu den Tätern durchzudringen?

Schuster: Indem ich sie erstmal einfach erzählen lasse, ganz unbefangen. Ein Teil unserer Arbeit besteht auch aus Sprachedukation. Entpersonalisierende Formulierungen wie „die da“ zu vermeiden, das läuft nebenher immer mit. In den Gruppenseminaren ist uns wichtig, dass alle Teilnehmenden auf einer Ebene sind – inklusive mir. Deshalb gebe auch ich Persönliches von mir preis. Und auch die Teilnehmer sollen gegenseitig ins Sharing gehen. Wir versuchen im Training zwei Dinge zusammenzubringen: Wohlwollen und Verständnis zeigen, aber gleichzeitig auch hart konfrontieren. Wir versuchen auch viel über Erleben zu vermitteln. Seit letztem Jahr haben wir deshalb ein erlebnispädagogisches Wochenende eingeführt (s. Bild unten). So kamen wir erstaunlich früh in eine Tiefe hinein, in der sich die Teilnehmer in ihrer Verletzlichkeit öffnen konnten. Und wir hinterfragen viel, um die Teilnehmenden ins Nachdenken zu bringen. Wichtig ist auch das Modul „Opferperspektive“. Gewalt hat Folgen, und das verdeutlichen wir, indem wir fragen: „Was habe ich als Gewaltausübender eigentlich für einen Rattenschwanz verursacht?“ Wir zeigen auf, was eine Ohrfeige für Folgen hat – kurz-, mittel- und langfristig. Für mich als Täter: Polizei, Anwalt, Therapeuten, Geldstrafe. Zum anderen schauen wir auf das Opfer und andere Geschädigte, zum Beispiel die Kinder, die Angst haben, wenn der Vater sie in den Arm nehmen will. Für ihre Taten und Folgen wie diese müssen die Menschen Verantwortung übernehmen.

Severin Schuster steht links und hält zwei Karten in der Hand. Am Boden liegen viele beschriftete Papiere
Severin Schuster während eines erlebnispädagogischen Wochenendes.

Amtsblatt: Herr Schuster, worin sehen Sie in Freiburg noch Entwicklungspotenzial bei der Arbeit mit Tätern und Täterinnen? Und was motiviert Sie persönlich, diese schwierige Arbeit zu machen?

Schuster: Wir wollen unser Angebot ausbauen, um mehr Menschen versorgen zu können. 2023 konnten 26 Personen ein Trainingsprogramm aufnehmen. Im Einzugsgebiet des Polizeipräsidiums Freiburg wurden 2022 über 1500 Fälle häuslicher Gewalt erfasst – die teils natürlich wiederholt von derselben Person verübt wurden. Eine weitere Gruppe und eine Nachsorgegruppe wären also wichtig. Krisenintervention ist zwar immer möglich, aber Gruppenplätze wir nur zweimal im Jahr vergeben. Das ist schade, denn die Arbeit mit der Gruppe ist wirklich etwas Wunderbares. Bei diesen Prozessen dabei zu sein und Fortschritte zu sehen, ist schön. Die Erfolgsgeschichte beginnt für mich schon, wenn sich jemand überwindet und anruft. Oder wenn sich jemand öffnen kann. Dass die Teilnehmenden eine Idee bekommen, wie sie ohne Gewalt mit ihren Emotionen umgehen können. Da bekomme ich immer ein bisschen Gänsehaut. Auch, dass sich in der Gruppe die Menschen gegenseitig so viel geben können, berührt mich. Viele Täter sind emotional hochbeschämt, fragen sich zum Beispiel: „Was habe ich meinen Kindern nur angetan?“ Gewalt ist einfach keine gute Konfliktlösungsstrategie. Es können nur beide verlieren. Opfer kreieren Opfer, und diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen. (tru)

Hilfs- und Unterstützungsangebote zum Gewaltschutz unter www.freiburg.de/gewaltschutz.Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist rund um die Uhr erreichbar unter 116 016. Bei Bedarf werden Dolmetscherinnen in 18 Sprachen zum Gespräch hinzugeschaltet.

Veröffentlicht am 15. April 2024